Beim NDR und FR erschienen

Das letzte Foto, das Birgit und Hermann W. aus Hamburg von ihrer Tochter Sara (Namen geändert) gemacht haben, zeigt sie gemeinsam mit ihrem Vater. Aufgenommen wurde es an Weihnachten 2022. Kurz danach ist Sara weg – bis heute. Denn gegen sie wird in Ungarn ermittelt. Ihr werden schwere Körperverletzung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Ob sie sich wirklich strafbar gemacht hat, ist bis heute nicht geklärt.

Die Ungewissheit, wie es jetzt weitergeht, ist für ihre Eltern schwer zu ertragen. „Sie ist rausgerissen aus allem. Sie hat kein Zuhause mehr. Sie ist einfach rausgerissen aus dem Leben und die Angst ist groß, gibt es einen Weg zurück? Also wie kann es einen Weg zurückgeben?“, fragt ihre Mutter im Interview mit Panorama 3.

Vorwürfe aus Budapest

Neonazis beim "Tag der Ehre" in Budapest in NS-Uniformen. © picture alliance / JOKER Foto: Martin Fejer/ est&ost

Offene NS-Verherrlichung: Teilnehmer des „Tag der Ehre“ in NS-Uniformen.

Anfang letzten Jahres reist Sara mit Freunden nach Budapest, um sich den antifaschistischen Protesten gegen den „Tag der Ehre“ anzuschließen. Unter diesem Motto findet in Budapest alljährlich ein Aufmarsch von Neonazis statt, bei dem ganz offen die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS verherrlicht werden. In jedem Jahr gibt es auch Proteste gegen den rechtsradikalen Aufmarsch. 2023 bleiben die nicht friedlich – mehrere Neonazis werden im Umfeld des Aufmarsches von Gruppen Vermummter verprügelt und zum Teil schwer verletzt. Zumindest von einem dieser Angriffe existiert eine Aufnahme aus einer Überwachungskamera. Wer die Täter auf dem Video sind, ist nicht zu erkennen.

Kurz darauf verhaftet und kontrolliert die Polizei in Budapest mehrere Verdächtige, darunter auch einige Deutsche. Auch Sara wird kontrolliert, darf aber wieder gehen. Trotzdem bleiben sie und weitere Personen im Visier der Behörden. Öffentlich wird nun nach den Verdächtigen gefahndet. Warum genau, das wissen zum Teil nicht einmal deren Anwälte.

Zu den Tatverdächtigen gehören 13 Deutsche. Einer wurde in Ungarn bereits zu drei Jahren Haft verurteilt – nicht wegen Körperverletzung, sondern wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation. Eine weitere Verdächtige steht aktuell vor Gericht. Zwei weitere wurden in Deutschland verhaftet und warten auf den Beschluss über ihre Auslieferung nach Ungarn. Die anderen neun – darunter Sara – verstecken sich, um ihrer Festnahme zu entgehen. Nicht nur in Ungarn wird jetzt ermittelt, auch in Deutschland führt die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen die Gesuchten.

Ungarn: Kein Rechtsstaat

Panorama 3 ist es gelungen, mit zwei der Untergetauchten Kontakt aufzunehmen. In einem exklusiven Interview wollen sie sich zu den ihnen vorgeworfenen Taten nicht äußern, aber sie erzählen, warum sie sich verstecken: „Wenn wir uns jetzt stellen, drohen uns da wirklich bis zu 24 Jahre Haft. Das ist länger als die meisten von uns alt sind. Dazu die schlechten Haftbedingungen, die wirklich nur dazu da sind, Leute einzuschüchtern, um Leute psychisch zu brechen“, erzählt eine der Untergetauchten Panorama 3. Auch die mediale Vorverurteilung in Ungarn spreche dagegen, sich einem Prozess in dem EU-Land zu stellen.

Seit Victor Orbán 2010 zum umgarischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat er das Justizsystem immer mehr unter seine Kontrolle gebracht. Eine unabhängige Justiz mit Rechtsstaatsprinzip scheint es in dem Land nicht mehr zu geben. Daniel Freund, Europaabgeordnete der Grünen, beschäftigt sich seit Jahren mit Ungarn. „Die Justiz in Ungarn ist komplett politisch kontrolliert. Orbán hat einen Großteil der Richterinnen und Richter, auch der Staatsanwälte benannt, nach politischen Kriterien. Ich befürchte einfach ein hochpolitisiertes, kein faires Verfahren. Hohe Vertreter der ungarischen Regierung haben sich zu diesen Fällen ja schon geäußert, haben durchblicken lassen, dass sie da harte Strafen wollen“, sagt er Panorama 3.

Hinzu kommt, dass auch die Haftanstalten im Land offenbar nicht den europäischen Mindestanforderungen an Gefängnisse entsprechen, berichtet Zsófia Moldova von der ungarischen Menschenrechtsorganisation Helsinki Komitee. Sie beobachtet das Gefängnissystem im Land seit 1989: „Die Temperatur kann im Sommer extrem heiß und im Winter extrem kalt sein. Zu erwähnen ist auch die schlechte Ernährung. Das tägliche Budget für die Verpflegung der Häftlinge beträgt etwa 2,80 € pro Tag. In vielen Einrichtungen gibt es kein warmes Wasser für die Körperpflege.“Ungarn weist diese Vorwürfe auf Anfrage von Panorama 3 zurück.

Prozess könnte in Deutschland stattfinden

Die Bundesanwaltschaft hätte allerdings noch eine Möglichkeit: sie könnte entscheiden, dass der Prozess gegen die Verdächtigen nicht in Ungarn, sondern in Deutschland stattfindet. Bisher hat sie dies nicht getan. Warum, ist bisher unklar. Eine schriftliche Anfrage von Panorama 3 lässt sie unbeantwortet.

Ein Teil der Untergetauchten wäre bereit, sich einem Prozess zu stellen. „Wenn uns zugesichert wird, dass es keine Auslieferung nach Ungarn gibt, dann wären viele von uns bereit sich zu stellen“,erklären zwei von ihnen. Dann könnte in Deutschland – ganz rechtsstaatlich – geklärt werden, ob sie die Straftaten begangen haben.

Nach Gewalttaten gegen Nazitreffen in Budapest dringen Linke auf Prozess in Deutschland (FR)

Seit Jahren versammeln sich Alt- und Neonazis aus Europa jeden Februar am sogenannten Tag der Ehre in Budapest. Im Jahr 2023 wurden mutmaßliche Rechtsextreme mit Metallstangen und anderen Waffen angegriffen und zum Teil schwer verletzt.

Jetzt gibt es Streit darüber, wo den deutschen Verdächtigen aus der Antifa-Szene der Prozess gemacht werden soll: in Deutschland oder Ungarn. In beiden Ländern wird wegen der Vorfälle ermittelt. Die Vorwürfe umfassen Körperverletzung und die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Drei Beschuldigte waren nach den Taten in Ungarn festgenommen worden. Ein Berliner wurde zu drei Jahren Haft verurteilt; gegen eine Italienerin und eine Deutsche läuft der Prozess in Budapest. Weitere zehn Deutsche werden verdächtigt. Von ihnen haben die Behörden bisher nur eine Person festnehmen können. Andere sollen laut ihren Anwälten bereit sein, sich zu stellen, wenn ihnen die Nichtauslieferung nach Ungarn zugesichert wird. Die Justiz soll dies aber mit der Forderung nach Geständnissen verknüpft haben.

Aktuell geht es um die mögliche Auslieferung der festgenommenen non-binären Person namens Maja T. Sie habe „in dem autokratischen System unter Regierungschef Viktor Orbán, in dem die Justiz nicht unabhängig ist, kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten“, befürchten linke Organisationen von Juristinnen und Juristen, darunter der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein sowie die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen.

Der Linken-Parteivorsitzende Martin Schirdewan beklagt einen „deutschen Kuschelkurs“ mit Ungarns Staatschef Orbán. „Natürlich müssen Straftaten verfolgt werden, egal von wem. Aber in einem Rechtsstaat gelten sowohl die Gebote der Verhältnismäßigkeit und der Menschenwürde wie das Prinzip einer unabhängigen Justiz. All das ist in Ungarn ganz offensichtlich nicht gegeben“, sagte Schirdewan der Frankfurter Rundschau.

Nach Angaben der „taz“ hat das Kammergericht Berlin Berichte von Ungarn angefordert, wie dort mit non-binären Personen in Haft umgegangen werde. Der Senat verkenne nicht, „dass die Politik der ungarischen Regierung als gender-, homo- und transfeindlich bezeichnet werden muss“, heiße es dort.

Die Mutter einer gesuchten Deutschen, Birgit Wittkugel, zeigte sich „erschüttert darüber, dass die Sicherheitsbehörden hierzulande offenbar mit der Drohung einer Auslieferung in menschenunwürdige Bedingungen“ arbeiteten. Die Unschuldsvermutung scheine keine Rolle zu spielen.

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